Comment | Historisch hatte der Konjunktiv im Deutschen eine modale und eine zeitliche Dimension. Es gab sogar eine Zeitenfolge, wie heute noch im Englischen:
Er sagt, er sei krank. Er sagte, er wäre krank.
Der temporale Bezug ist seit mindestens 200 Jahren verschwunden (wahrscheinlich noch viel früher, ich kann das jetzt nicht finden). Trotzdem gibt es heute noch Sprecher, die glauben, die Verwendung des K I und K II sei abhängig von der Zeit des übergeordneten Verbs.
Vor diesem Hintergrund ist der Wandel der Dudenauffassung absurd hektisch. Er spiegelt nicht Veränderungen in der Sprache, sondern Veränderungen in der Interpretation der Sprache.
Vom Duden 1966 wurde schon gesprochen. Die Grammatik von 1998 benutze ich nicht, ich zitiere also Londoner und vertraue darauf, dass seine Beschreibung korrekt ist:
Die Duden-Grammatik (meine ist die 6. Auflage von 1998) vertritt den Standpunkt, dass ein Sprecher nicht deshalb den Indikativ (anstelle von K I bzw. KII bei Formengleichheit) nimmt, um den von ihm angenommenen Wahrheitsgehalt zu unterstreichen. (meine Hervorhebung)
Nur 10 Jahre später sieht das so aus (8. Auflage 2009; ich verkürze die Zitate; meine Hervorhebungen fett):
Beispielsatz: "[Einstein] kritisierte energisch, dass Bohr voreilig ... die Kausalität aufgegeben habe ..."
Steht der Objektsatz im Indikativ [aufgegeben hat/hatte] so darf -- oder muss -- der Hörer davon ausgehen, dass der Sprecher (Autor) den Inhalt des abhängigen Satzes als gegeben betrachtet wissen will. Diese Schlussfolgerung unterbindet der Konjunktiv.
Das heißt, Indikativ und Konjunktiv signalisieren einen Unterschied in der Sprecherhaltung. Vgl. oben dirks Beispiel (aus #22):
>>Ebenso würde ich aus dem Satz "der Lehrer hat den Kindern beigebracht, dass Frankfurt die Hauptstadt von Hessen ist" folgern, dass es der Sprecher selbst nicht besser weiß.
Würde ich auch. Und Duden auch. Interessant ist natürlich, dass diese Differenzierung sich vor allem in dass-Sätzen anbietet, in denen der Konjunktiv ja nicht zwingend erforderlich ist, um die Indirektheit der Wiedergabe deutlich zu machen. Aber Duden gibt auch andere Beispiele. Man beachte aber, welche Haltung der Duden selbst hier insinuiert:
Früher war der Indirektheitskonjunktiv eher eine vom übergeordneten Verb ausgelöste Rektionserscheinung. Dementsprechend war der Konjunktiv auch nach Verben des Wissens usw. verbreitet ... Beispiele: [Er] stellte fest, dass er Unsinn getrieben habe. (Musil) Beide wussten, diesmal seien sie verloren. (H. Mann) -- Meine Anmerkung: Es gibt sicher bessere Beispiele!
Durch die Markierung der Indirektheit (Figurenperspektive) verhindert der Konjunktiv die faktive Deutung ("sie waren tatsächlich verloren"), die diese Prädikate im unmarkierten Fall auslösen. Dieser Konjunktivgebrauch begegnet noch in der Belletristik des 20. Jahrhunderts. Auch heute kann der Konjunktiv unter bestimmten Bedingungen nach Verben des Wissens usw. vorkommen.
Das dafür gegebene Beispiel stammt allerdings ebenfalls aus dem angeblich in grauer Vorzeit liegenden 20. Jahrhundert und ist überdies falsch: "Ein Reporter will wissen, ob..." ist ja gerade kein Verb des Wissens, sondern steht für "fragt". Das Wort "wissen" ist hier Teil der indirekten Rede (direkt: "ich will wissen, ob + Indikativ"). Das nur als Beispiel für den nachlässigen Umgang der Redaktion mit brisantem Material. Es gibt noch mehr davon.
Warum aber wird der Versuch gemacht, bestimmte Differenzierungen als historisch und veraltend darzustellen?
Aufgrund [dieser besprochenen] Erscheinungen betrachten einige Darstellungen die Signalisierung von Nichtfaktivität als die "eigentliche" Leistung des Konjunktivs (Thieroff 1992, Eisenberg 2006). In dieser [d.h., der Duden-] Grammatik wird die Ansicht vertreten, dass die Aufhebung der Faktivität ... als eine kontextbedingte Begleiterscheinung ... der Signalisierung indirekter Redewiedergabe i.w.S. ... zu erklären ist.
Summa: Die 8. Auflage erkennt an, dass Sprecher dort, wo sie die Wahl zwischen Konjunktiv und Indikativ haben, durchaus ihre Haltung zur wiedergegebenen Rede (Akzeptanz oder Offenlassen) deutlich machen können. Andererseits spielt sie diese Differenzierungen in Enklang mit ihrer Grundauffassung und in Widerspruch zu anderen, auch aktuellen, Darstellungen (Prof. Eisenberg ist selbst Mitarbeiter am Duden) wieder herunter.
Sie geht nicht darauf ein, dass Sprecher (und vor allem Schreiber) zwischen K I und K II möglicherweise unterscheiden, um eine Haltung deutlich zu machen, und das nicht nur in indirekter Rede:
Du tust gerade so, als sei ich blöd (lassen wir's dahingestellt). Du tust gerade so, als wäre ich blöd (ich bin es jedenfalls nicht). |
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