Quellen | Wir kamen von der Bahn gegen ½10 zum Dom hin; die Sonne war nicht mehr da, es war ein grauer Frost, aber immer noch still. Als wir aber an die Kathedrale kamen, bog unerwartet ein Wind, wie jemand sehr Großer, um die Ecke des Engels und ging mit einer Unerbittlichkeit durch uns durch, scharf und zerschneidend. „O,“ sagte ich, „nun erhebt sich auf einmal ein Sturm.“ »Mais vous ne savez pas,« sagte der Meister, »il y a toujours un vent, ce vent-là autour des grandes Cathédrales. Elles sont toujours entourées d'un vent mauvais agité, tourmenté de leur grandeur. C’est l’air qui tombe le long des contreforts, et qui tombe de cette hauteur [et] erre autour de l’église …« So irgendwie sagte der Meister das, kürzer, etwas weniger ausgeführt, gotischer zugleich. Aber so etwa war der Sinn dessen, was er meinte. Und in diesem vent errant standen wir wie Verdammte im Vergleich zu dem Engel, der so selig sein Zifferblatt einer Sonne hinhielt, die er immer sah …» Aus: http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?f=19..., 27. Aug 2009, 21:48 |
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Kommentar | Also, nehmt's mir bitte nicht übel, aber 'hochnäsiges/herablassendes Schnauben' erscheint mir hineininterpretiert, und 'provoquer' ist nun doch ein bißchen etwas anderes als 'umweht sein'
Rodin gibt dem über den plötzlichen "Sturm" Erschrockenen eine natürliche Erklärung, wie es dazu kommt: die Luft fällt an den Strebepfeilern der Kathedrale(n) herab, aus großer Höhe, die schiere Größe der Kathedrale erzeugt so einen heftigen, böigen, wildbewegten-wirbelnden (tourmenté) Wind, der um die Kirche herum mal in die eine, mal in die andere Richtung weht (erre autour). Dieser physikalische Grund wird nun allerdings von Rilke quasi metaphysisch aufgeladen, indem er diesen "springenden" (errant) Wind personifiziert ("wie jemand sehr Großer"), qualifiziert ("unerbittlich") und sein Tun beschreibt (scharf hindurchgehen, zerschneiden), wahrscheinlich auch, indem er "tourmenté de leur grandeur" in figürlichem Sinne versteht: der Wind ist nicht ein durch die rein gebäuliche Größe der Kathedrale, sondern durch die ihres geistigen Gehalts, der sich in ihr ausdrückt, Getriebener, Geplagter. Ich glaube aber nicht, daß Rilke, wenn er in der anderen Passage vom 'vent du dédain' spricht, diese Personifizierung so weit getrieben hat, daß er in Rodins Äußerung die Kathedrale selbst "schnauben" ließe.
Nimmt man beide Stellen, die zeitlich nähere, ausführliche, und die spätere, komprimierte, zusammen, so ergibt sich (für mein Empfinden wenigstens) für 'vent du dédain' das Bild des realen Windes, der, von der Größe und übergroßen Reinheit der Kathedrale getrieben, die Menschen faßt und ihnen im Zerschneiden ('Durchpusten' würde man heute vielleicht sehr prosaisch sagen) ihre Kleinheit, Nichtigkeit und Verlorenheit (Rilke sagt sogar 'wie Verdammte'!), und damit ihr Getrenntsein von der Vollkommenheit, wie sie im Bild des selig lächelnden Engels als scharfer Gegensatz aufscheint, bewußt macht. Der langen Rede kurzer Sinn: "Wind der Geringschätzung" halte ich für völlig adäquat.
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