@ janne10, tolle Bemerkungen, du scheinst das brasilianische Portugiesische gut zu kennen! Die Unterschiede zwischen den zwei Sprachen - und habt kein Zweifel: sie sind zwei verschiedene Sprachen seit mindestens 200 Jahre - haben viel mit der Trennung von Kolonie und Metropole zu tun, aber auch mit den verschiedensten Indianer- und Afrikanersprachen, die im Kontakt mit dem europäischen Portugiesisch seit dem 16. Jahrhundert waren und noch sind.
Das mit den Vokalen ist wahr im allgemeinen, repräsentiert jedoch nicht das ganze Continuum der vokalischen Realisation im brasilianischen Portugiesischen. Zum Beispiel, manche Leuten aus Santa Catarina - besonders in Florianópolis - sprechen ziemlich schnell für einen Ohr aus São Paulo oder Rio Grande do Sul, weil da die spätere Azorianische Kolonisation einen starken Einfluss hatte. Das ist der Fall auch in vielen Städten an der Küste, wo eigentlich die Kolonisation begann und wo die Portugieser sich fester eingesiedelt hatten.
Man darf auch nicht vergessen, dass Portugal viel mehr Kontakt mit brasilianischen Kulturprodukte - Musik, Telenovelas, Filme usw. - hat als Brasilien mit portugiesischen. Das beeinflusst sehr die Wahrnehmung der Unterschiede, und kann auch manchmal mehrere Vorurteile schaffen bzw. verstärken. Ein Fall ist von Saramago, der, nachdem ein brasilianischer Journaist sagte, er verstehe Saramago nicht wegen dessem Akzent, sagte, "Das ist meine Sprache, Sie haben den Akzent" (soso übersetzt von "A língua é minha, o sotaque é seu" (siehe
http://www.recantodasletras.com.br/artigos/2768332).
Das mit dem "Gesungenen" ist eine Frage der Wahrnehmung. Für die Leute aus São Paulo spricht man im Nordosten und in Florianópolis schön gesungen (manche sagen "olha que bonitinho, faltam cantadinho"). Das Umgekehrte ist aber auch wahr: Ich kenne ein paar Leute aus Curitiba, deren Akzent von Leuten aus Recife und Salvador als "gesungen" betrachtet wurde (mit demselben Kommentar, "olha que bonitinho, falam tudo cantado"). Die Tatsache ist, dass es verschiedene Betonungsmuster- und Tendenzen in Brasilien gibt, die von REgion zu Region, von Staat zu Staat und manchmal auch sogar von Stadt zu Stadt variieren. Es sind verschiedene ARten des "Singens" :)
Ich muss hier aber auch für meinen eigenen "Dialekt" plädieren, der noch nicht in Leo berücksichtigt wird. Als ich meinen Profil füllte, habe ich Portugiesisch als Muttersprache angekreuzt und wollte meine Region bezeichnen. Da gibt es aber kein Bundesstaat Paraná, wo ich wohne! Die Städte am nähesten sind Florianópolis und São Paulo, die ganz verschiedene Akzente haben. Das spiegelt einen Vorurteil wider, dass man in Paraná eine Mischung von verschiedenen Akzenten - was manchmal "keinen Akzent" genannt wird - hat, i.a. von Rio Grande do Sul, São Paulo und Santa Catarina. Wo kann ich das berichten? Ich meine, eine neue Region im Auswahlbox zu haben?
Dieses Vorurteil führt zu Problemen, wie als einmal eine Professorin aus Campinas, São Paulo nach Curitiba für einen Linguistenkongress kam und erstaunte, dass die Curitibaner gar nicht sprachen als sie erwartete. Zum Beispiel, man sollte nach ihrer Erwartungen "Curitiba" als /kuri'tiba/ aussprechen, mit einem "deutschen" [t], was man eigentlich /kuri'tśiba/ ausspricht (ś steht für "sch"). Nicht nur war die Professorin erstaunt, sondern die Studenten und Professoren an der Uni in Curitiba waren in voller Wut, weil alle Erwartungen der Professorin waren falsch und entsprachen kaum der Realität in Curitiba.
Also das ist eine super lange Diskussion, die sowohl die akademische Debatte als auch den alltäglichen Diskurs durchdringt und die zu heftigen Schocks führt, z.B. wegen der neuen Rechtschreibung, die m.M. nach eher eine politische als eine rein linguistische Maßnahme ist (da zündt sich das Feuer eines neuen Diskussionfadens an... :))