Ich habe gestern ein Interview/Streitgespräch gelesen, in dem so einige der hier oder anderswo bei LEO genannten Argumente zum Thema Gendern ebenfalls auftauchen. Insofern ist es nicht besonders erhellend, aber vielleicht trotzdem für manche interessant. Mir hat es gefallen, weil beide Diskutanten sehr viel sagen, dem ich zustimme. Es diskutieren Gabriele Diewald - eine Linguistikprofessorin, die unter anderem Bücher zur geschlechtergerechten Sprache veröffentlicht hat - und Rainer Moritz - der Chef des nach eigenen Worten einzigen Literaturhauses, "das kein Sternchen in Editorials und Einführungstexten setzt".
https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2021/...
Ein paar Teaser:
Diewald: Wer verursacht Wandel in der Kunst? Das ist nicht die Mehrheit. Das sind Gruppen, die Avantgarde sind, die etwas Neues einführen wollen, auch etwas Falsches! Wenn Sie neuen Bedarf anmelden, der nicht mit den Gewohnheiten konform ist, ist das immer eine Überschreitung.
Moritz: Den Wechsel von "buk" zu "backte" hat niemand aktiv angeschoben. Da sind die Sprechenden den einfacheren Weg gegangen. Das ist etwas anderes, als wenn eine Elite neue Redeformen bilden will, um gerecht zu sprechen.
Moritz: Ich kenne eine Buchhändlerin auf Rügen, die in der DDR geboren ist und die bis heute sagt, sie habe Verkehrskaufmann gelernt.
Diewald: Die Frauenbewegung in der DDR wurde unterdrückt. Aber wenn hinter der Bezeichnung "Maschinist" zu 50 Prozent Frauen auftauchen, verändert sich die Wortbedeutung. Das war in der DDR der Fall, in der alten Bundesrepublik aber nicht. Bei uns mussten Frauen bis in die 70er Jahre hinein noch ihre Ehemänner um Erlaubnis bitten, wenn sie jenseits des Haushaltes arbeiten wollten.
Diewald: [...] Ich bin keine Freundin vom Sternchen. Aber ich sehe ein, dass wir kaum etwas Besseres haben. Immerhin gibt es noch Personenbezeichnungen, die geschlechtsneutral sind – Mensch, Person, Kind. Und sämtliche Partizipien wie Arbeitssuchende, Alleinerziehende oder Vorsitzende.
[...]
Moritz: Sie müssen zugeben, dass diese Partizipialkonstruktionen als Ersatz nicht immer funktionieren.
Diewald: Weil neue Bildungen oft nicht funktionieren. Sie würden auch nicht von "Alleinerzieher" sprechen, oder? Weil das Wort "Alleinerziehender" schon da ist.
Diewald: Oh je, die einen kommen sofort mit Leitfäden daher, die anderen wollen in beckmesserischer Manier alle Fehler zählen. Das finde ich fast infantil und völlig unangemessen. Wie offen, wie tolerant und wie sicher sind wir in unserer Sprache, dass wir erkennen, wo Experimente stattfinden?
[...]
Moritz: Sie lavieren ein wenig. Keine dieser Formen – weder Sternchen noch Binnen-I noch Gendergap – ist vom Duden oder vom Rat für Rechtschreibung zugelassen. Es ist kaum hinnehmbar, dass das keine Rolle spielt, nur weil eine Avantgarde ihre Überzeugung bis in die Wortbildung und ins gesprochene Wort durchsetzen will.
Diewald: Ja, das Problem ist gravierend. Aber die Geschichte der Sprache ist geprägt von patriarchalen Strukturen: Es gibt zwei Geschlechter, genau zwei, und eines ist besser – ganz klar. Da hat weder ein Drittes Platz noch etwas Gleichgestelltes. Jetzt versucht man das. Und dann heißt es einerseits sofort: Wir brauchen eine Regel, vor allem für die Rechtschreibung, die ist heilig und wichtiger als alles, was wir meinen, denken und wie wir kritisieren. Aber sagt dann jemand, wie es gehen könnte, heißt es plötzlich: Hilfe, da kommt Sprachpolizei! Wir müssen doch nicht so tun, als würden die Regeln einen NATO-Draht über die ganze Sprache legen und man dürfe nicht mehr anders!
Moritz: Es kommt aus der akademischen Welt, die Medien haben es übernommen – aber die Gesamtbevölkerung? Auf dem Wochenmarkt auf der Schwäbischen Alb wird dieser Knacklaut nie gesprochen werden!
Diewald: Das muss ja auch nicht sein. Aber ich stelle mich nicht ins Seminar und sage: Liebe Studenten! Das ist eine Beleidigung. Wenn ich im Fränkischen einkaufen gehe, dann spreche ich auch keinen Knack.
Moritz: Soll es denn keine Norm werden? Oder soll es nur die akademische Welt erreichen?
Diewald: Sie glauben, dass eine Norm für alle gilt? Es gibt doch auch sonst Unterschiede: Wie man grüßt, welche Dankformeln man benutzt, das kann man mischen. Auch in Süddeutschland sagen plötzliche viele "Moin". Einer Norm folgt man doch vor allem in offiziellen Textsorten.
Moritz: Aber wenn Claus Kleber im ZDF demonstrativ den Knacklaut spricht, steckt dahinter schon die Haltung, dass dies die Sprechweise sehr vieler Menschen werden soll.
Diewald: Vielleicht heißt es auch nur: Wir haben verstanden und möchten signalisieren, dass wir alle ansprechen.