Die Präposition vor hat zwei Bedeutungen: eine zeitliche und eine räumliche. Die zeitliche ist eindeutig: Wenn Ereignis A vor Ereignis B stattfindet, dann kommt es zeitlich früher. Da die Zeitwahrnehmung für alle Menschen gleich ist (höhere Physik lassen wir mal außen vor 🙂), gibt es da keine Missverständnisse.
Räumlich ist es dagegen weit weniger eindeutig:
Vor dem Fenster steht ein Baum.
Was heißt das? Für den Beobachter A von draußen versperrt der Baum den Blick auf (und durch) das Fenster, denn er steht davor. Für den Beobachter B von drinnen, der in die entgegengesetzte Richtung blickt, bleibt das Fenster frei und durchsichtig, trotzdem steht der Baum vor dem Fenster, denn B sieht den Baum durch das Fenster vor sich.
Nun ersetzen wir den Baum im Freien mal durch eine Zimmerpalme in der Fensterbank. Für A steht die Palme hinter dem Fenster, obwohl er sich topologisch in der gleichen Situation befindet wie B im ersten Fall. B selbst würde die Zimmerpalme vermutlich gar nicht vor oder hinter, sondern eher im oder am Fenster verorten, es sei denn, sie ist so dominant, dass sie den Blick zum Fenster wesentlich behindert, dann steht sie wieder davor.
Geben wir einem Beobachter B die Aufgabe, zwei Objekte X und Y, die sich unterschiedlichem Abstand in seiner Blickrichtung befinden, zueinander in Beziehung zu setzen:
B ----> X ---------- Y
Je nachdem, ob er die eigene Blickrichtung oder den Bedeckungsaspekt für wichtiger hält, wird B Y vor X oder X vor Y einordnen.
Wenn aber zwischen X und Y selbst eine Richtungsbeziehung herrscht, nimmt diese umso mehr Einfluss, je stärker sie ist:
B ----> X -------->> Y
Das gilt etwa bei fahrenden Autos auf der Autobahn oder bei Personen in einer Warteschlange. Sätze wie
Das rote Auto fährt vor dem grünen
oder
Anne steht vor Max in der Schlange
sind (nahezu) eindeutig. Es sei denn, das grüne Auto ist ein fetter SUV, sodass ich den roten Smart kaum erkennen kann, oder Max ist so groß dick, dass er die schmächtige Anne verdeckt. Dann könnte jemand auf die Idee kommen, das grüne vor dem roten Auto oder Max vor Anne zu verorten.
Bei dem Beispiel mit der Bushaltestelle ist die Richtungsbeziehung durch die Fahrtrichtung gegeben. Verwirrungssteigernd kommt dazu, dass wir dazu neigen, in so einem Fall zeitlich zu denken. Wir fühlen uns als die Fahrgäste, und wenn die die verlegte Haltestelle zeitlich vor der ursprünglichen erreichen, dann liegt sie eben davor. Das dürfte der Grund sein, weshalb die Tendenz klar zur Interpretation A des OP geht. Eindeutig ist das aber nicht.