Oder spiegelt die Studie und der Kommentar Bertrams gar nicht die Realitaet wieder? (Dubliner, OP)
Das kommt natürlich ganz darauf an, was man unter 'Realität' verstanden wissen will. Es gibt unter Sozialforschern den tiefsinnigen Plattwitz, Intelligenz sei das, was der Intelligenztest messe. In dessen Abwandlung könnte man sagen, 'die Realität' sei das, was die Studie beschreibt. Es ist aber nicht nur Kalauerei, man kann das auch als operationale Definition von Realität bezeichnen.
Aber ernsthaft: Selbstverständlich beziehen sich Studien wie die von Bertram behandelten auf Wirklichkeit. Man muss sich nur darüber im Klaren sein, dass es sich hier, zumindest teilweise, um Metastudien von Metastudien handelt. Als Ergebnis stehen dann aus Zusammenfassungen zusammengefasste Rankinglisten da, und deren Aussagekraft ist ungefähr vergleichbar mit dem Versuch, aus der Platzierung eines Buches in der Spiegel-Beststellerliste auf die Güte des vom Autor beim Verfassen des Buches konsumierten Kaffees zu schließen.
Sozialforscher sehen sich in den letzten Jahrzehnten mit dem Phänomen sozialer Differenzierung konfrontiert, und die ist naheliegenderweise mittels Verallgemeinerung nicht darstellbar. Bertram selbst weist in seinem Papier "Zur Lage der Kinder in Deutschland - Politik für Kinder als Zukunftsgestaltung" (Quelle: siehe #4) recht ausführlich darauf hin:
Die Migrations- und kulturellen Wandlungsprozesse haben in allen entwickelten Industriegesellschaften dazu beigetragen, dass heute eine Fülle ganz unterschiedlicher familiärer Lebensformen und Vorstellungen über Familie nebeneinander existieren. Daher kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass alle Kinder in ihrer Familie den gleichen kulturellen Hintergrund vermittelt bekommen, der beispielsweise notwendig ist, um in der Schule erfolgreich zu sein. Zudem hat die wirtschaftliche Dynamik in vielen europäischen Gesellschaften dazu beigetragen, dass innerhalb der einzelnen Nationalstaaten neben Gebieten mit großer wirtschaftlicher Dynamik und hoher ökonomischer Prosperität solche Gebiete existieren, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht nur tief greifende wirtschaftliche Umbrüche, sondern den Untergang ganzer Industrien erlebt haben. Die ökonomische Spreizung innerhalb einer Gesellschaft hat zu ganz unterschiedlichen Lebensbedingungen von Familien mit Kindern geführt. Gebiete mit hoher Arbeitslosigkeit existieren neben Gebieten mit Vollbeschäftigung. Regionen mit relativ hoher Armut existieren neben Regionen, die sich im OECD-Vergleich in der obersten Spitze bewegen. (Hervorhebungen San_D)
Auch im weiteren Text gibt Bertram immer wieder Hinweise auf die Notwendigkeit, der Differenzierung empirisch gerecht zu werden. Dass er dennoch stark verallgemeinerte Resultate wiedergibt, mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass Differenziertes nicht gern gelesen wird, auch nicht von Politikern, die sich nach meiner Erfahrung oft strikt weigern, Gleichzeitigkeit und Nebeneinander gesellschaftlicher Widersprüche überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund fällt es mir schwer, "Deutschlands Ergebnisse" zu kommentieren. Ich sehe wenig Sinn in Debatten über internationale Rankings.
Interessanter finde ich da schon die Frage nach den Motivationsszenarien. Hier gibt es im internationalen Vergleich sicherlich Unterschiede, doch muss man sich davor hüten, im Alltag beobachtetes 'Anderssein' vorschnell in Aussagen über Mentalitätsunterschiede oder vermutete Chrakteristika der jeweiligen 'Volksseele' münden zu lassen. Wen die Wert- und Zukunftsvorstellungen deutscher Jugendlicher interessieren, kann dazu unter
http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshe... fündig werden. Hier seien nur stichwortartig ein paar Überschriften aus der Zusammenfassung der Hauptergebnisse der (übrigens sehr differenziert angelegten) 15. Shell-Jugendstudie wiedergegeben, die andeuten, dass das sprichtwörtliche Abendland wohl noch nicht so bald untergehen wird, sich aber seit Humboldt verändert hat:
Bedeutungszuwachs der Familie / Engagement für andere weiterhin auf hohem Niveau / Herausforderung demografischer Wandel / Stabile Wertorientierungen / Pluralität der Werthaltungen / Keine Renaissance der ReligionBei aller Vorsicht sehe ich in punkto "Herangehensweise" oder "Mentalität" sehr wohl Unterschiede, z.B. zwischen USA und Deutschland. Mein persönlicher Eindruck ist in der Tat, dass man in Deutschland eher geneigt ist zu fragen "Was kostet mich das", während man in Amerika fragt "Was bekomme ich". Wer schon einmal versucht hat, einem Amerikaner zu erklären, warum Deutsche den Verbrauch (!) ihres Autos aufwands- oder kostenorientiert bestimmen (in Liter pro 100 km), statt sich nutzenorientiert zu fragen, wieviele Meilen pro Gallone sie bekommen, der ahnt zumindest, was ich meine.
Eine letzte Bemerkung gilt dem Beitrag #7: In Deutschland ist in der Tat Unterernährung nicht das Problem. Beachten sollte man jedoch, dass paradoxerweise (s.o.: - gesellschaftliche Widersprüche) relative Armut bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland verbreitet zu Fettleibigkeit mit gravierenden Folgeerkrankungen wie Diabetes führt. Das ist aber auch in USA und mittlerweile in der VR China zu beobachten.
Ansonsten ist es auch ein (globaler) gesellschaftlicher Widerspruch, wenn schwerstadipöse deutsche Kinder bei der Krankengymnastik 100-Euro-Turnschuhe tragen, die von den unterernährten Kindern in asiatischen Sweatshops fabriziert worden sind.